Bericht des Vorsitzenden Prof. Hans-Jürgen Goertz

Jahresversammlung der Thomas-Müntzer-Gesellschaft am 28. Mai 2016 im Kulturhistorischen Museum in Mühlhausen

Ich hatte bereits im letzten Jahr angeregt, den Vorsitz der Thomas-Müntzer- Gesellschaft in jüngere Hände legen zu lassen. Und nun ist es soweit. Der Vorstand muss auf dieser Jahresversammlung unseres Vereins neu gewählt werden, und nichts spricht dagegen, diese formale Zäsur mit einer inhaltlichen zu verbinden. Es werden also nicht nur die Vorstandsmitglieder neu gewählt, sondern auch der Vorsitz neu geregelt.

Günter Vogler hat die Geschicke der Müntzer-Gesellschaft seit der Gründung 2001 acht Jahre lang geleitet; und es ist für mich ein kleines Zeichen unserer Verbundenheit, dass ich seine Arbeit ebenso lange fortführen durfte – nicht anders und nicht in Konkurrenz zu ihm, sondern in seinem Sinne. Wir haben uns bemüht, Leben und Werk Thomas Müntzers nach der sogenannten Wende 1989 im Gespräch zu halten. Mit Müntzer, der seine Landesherren in der Fürstenpredigt auf die Hinfälligkeit weltlicher Macht hingewiesen hatte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, „Staat zu machen“; doch mit dem Niedergang dieses Staates drohte auch Müntzer, die Symbolfigur der DDR, unterzugehen; nicht er, sondern die Erinnerung an ihn. So hatten sich Historiker und Theologen zusammengefunden, um die Erkenntnisse aufzunehmen und weiter zu diskutieren, die in der neueren Forschung zu Tage gefördert worden waren, im Osten nicht immer nur in Übereinstimmung mit der Geschichtspolitik der Staatsführung, und im Westen nicht immer nur als nachhaltige Bestätigung der Denunziationsgeschichte, die mit Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Agricola begonnen und sich tief ins Gemüt der historisch Interessierten eingegraben hatte. Sowohl im Osten als auch im Westen war die Interpretation Müntzers zu einem Problem geworden. Die einen begannen einzusehen, dass die Theologie kein Deckmantel gewesen sei, unter dem andere als religiöse Ziele verfolgt wurden; und die anderen sahen ein, dass der Sinn der Theologie Müntzers sich nur erschließt, wenn sie als Reflex auf Probleme in der Erfahrungswelt verstanden wird. Der gegenseitige Vorwurf, hier zu wenig Theologie und dort zu viel Theologie, begann sich aufzulösen. Oder anders auf den Punkt gebracht: Müntzer war als Sozialrevolutionär ernstzunehmen, weil er Theologe war, und er war als Theologe ernstzunehmen, weil er Verständnis für das sozialrevolutionäre Aufbegehren des „gemeinen Mannes“ zeigte. Kurz vor der Wende war die Müntzerforschung zu einem kreativen Problembewusstsein erwacht, und das sollte nicht mehr vergessen werden. Das also war ein Motiv, das einst zur Gründung der Müntzergesellschaft führte. Das war auch der Gedanke, der die Vortrags- und Publikationsstrategie der Gesellschaft geleitet hat. Geleitet hat die Aktivitäten der Gesellschaft ebenso, was man die Pflege der Erinnerungskultur nennen könnte, in der Müntzer eine tragende Rolle spielte und immer noch spielt. Hier konnten wir an Beispiele anknüpfen, die im Alltag der DDR-Gesellschaft verwurzelt waren: Müntzer in Bildender Kunst, im Roman und Drama, im Film und Fernsehen, im Schulbuch und im politischen Argument.

Eric Gritsch hat im Titel seiner nordamerikanischen Müntzerbiographie vom „Reformer ohne Kirche“ (1967) gesprochen. Das ist nur zum Teil richtig. In Zwickau, Allstedt und Mühlhausen stand Müntzer auf der Kanzel wichtiger Kirchen und hat versucht, diese Kirchen in sein Reformwerk hineinzuziehen, die Kirche nicht ohne, sondern mit den Gemeindegliedern zu erneuern. Richtig ist, dass er nach seiner Hinrichtung aus den Analen seiner Kirche gelöscht wurde und keine Kirche sich mehr seiner in liebevoller Zuwendung erinnerte. Unsere Thomas-Müntzer-Gesellschaft ist alles andere als eine Kirche, aber sie ist die einzige Körperschaft in Deutschland, die sich der Erinnerung an Thomas Müntzer verschrieben hat.

Theologie und soziale Erfahrung, ebenso Forschung und Erinnerung sind der Rahmen, in dem die TMG ihre Aufgaben gesucht hat. Ein bestimmtes Konzept, das nach und nach hätte abgearbeitet werden müssen, hat sie sich nicht verordnet. Sie hat kein Budget, das sie in die Lage hätte versetzen können, Forschungsprojekte anzuregen und finanziell auszustatten. Sie lebt immer noch von der Arbeitskraft einiger Mitglieder, die sich seit langem in der Forschung engagiert haben, und von den Kontakten, die der eine oder andere in der sich weltweit entfaltenden Community of Scholars unterhielt: in Italien, Spanien und England, in Nordamerika, Japan und Neuseeland. Sie hat die neueren Forschungsbeiträge begleitet, sie teilweise in ihrer Homepage, auf ihren Veranstaltungen und in brieflichen Antworten auf Anfragen bekannt gemacht. Einige von uns haben bei Filmproduktionen, wie dem Filmporträt Thomas Müntzers in der ZDF-Folge Die Deutschen oder dem Müntzerfilm im Mitteldeutschen Fernsehen, Satan von Allstedt, beraten. Es ist uns aber nicht gelungen, die Verteuflung, ein Lutherzitat übrigens, aus dem Titel zu streichen. Einige haben die eine oder andere entstehende wissenschaftliche oder journalistische Arbeit gefördert. So hat Herr Müller das kleinste Buch, das es über Müntzer gibt, betreut: Heinz Stade, Thomas Müntzer. Stationen seines Lebens und Wirkens, Ilmenau 2016. Demnächst wird ein Vademekum zu Reisen nach Stätten der Reformation in Mitteldeutschland von Günter Kowa erscheinen, mit einigen markanten Abschnitten über Thomas Müntzer auf dem neusten Stand der Forschung. Mit Herrn Kowa sind wir seit einiger Zeit im Gespräch. Er hat in der mitteldeutschen Presse gelegentlich von Veranstaltungen der TMG berichtet. Hier und da haben wir versucht, Fehlinformationen und -urteile über Thomas Müntzer in Lexika oder Informationsbroschüren korrigieren zu lassen – ebenso erfolgreich in der neuen Ausstellung auf dem Allstedter Schloss. Im Gesangbuch der Evangelischen Kirche, in der sich zwei Lieder Müntzers aus dem Allstedter Liturgiewerk finden, steht immer noch, dass Müntzer Mönch gewesen sei, bevor er auf den Kurs der Reformation einschwenkte. Er war Priester der Diözese Halberstadt, nicht Mönch.

Die TMG hat den Kontakt zur Partei der LINKEN nicht gescheut und im Mai 2012 ein gemeinsames Tagungswochenende in Mühlhausen bestritten. Politiker von rechts und links waren dabei, der jetzige Ministerpräsident von Thüringen, die lutherische Botschafterin für die Jubiläumsvorbereitungen, eine Pröpstin und ein jüdischer Hochschullehrer aus Erfurt. Ein Chor aus Nürnberg hat Teile der gregorianischen Liturgie, die Müntzer einst reformatorisch erneuerte, in der Marienkirche zu Gehör gebracht. Erstaunlich, wen Müntzer heute anzuziehen vermag. Ein wenig Wasser von der voluminösen Müntzerbibliographie, die Marion Dammaschke und Günter Vogler auf den Markt gebracht haben, von dem kritisch editierten Quellenband zu Müntzer von Siegfried Hoyer und Wieland Held und dem Briefwechsel Thomas Müntzers von Siegfried Bräuer und Werner Kobuch fließt inzwischen auf die Mühlen der Thomas-Müntzer-Gesellschaft. Das erwarten wir auch von der neuen Edition der Müntzerschriften, die Eike Wolgast, ich begrüße ihn unter uns, gerade vorbereitet und bald erscheinen lässt. Ganz besonders aber erwarten wir das von der Thomas Müntzer-Biographie, die Siegfried Bräuer und Günter Vogler im Gütersloher Verlagshaus gerade herausgebracht haben. Sie liegt – mit ihrem ganzen Gewicht – bereits auf unserem Büchertisch, hier einige Wochen eher als in den Buchhandlungen, ein besonderer Service für die TMG. Der Zeitpunkt ist gut gewählt: Abschluss, eine reiche Ernte wurde eingefahren, und Anfang zugleich, wir werden aufgefordert, mit dem Müntzerstudium noch einmal zu beginnen. Das eine steht jetzt schon fest: Es wird ein langes Studium werden.

Die Müntzer-Gesellschaft hat den Kontakt zur Presse, vor allem der lokalen und regionalen Presse in Mitteldeutschland gepflegt. Einige Veröffentlichungen ihrer Mitglieder sind, indem sie mit der Müntzer-Gesellschaft in Verbindung gebracht wurden, in den wichtigeren Zeitungen besprochen worden. Um kurz von mir zu reden, meine revidierte Biographie Müntzers aus dem letzten Jahr wurde von rechts nach links besprochen, in der Neuen Zürcher Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, über die Regionalpresse in Mitteldeutschland bis zum Neuen Deutschland. Da muss doch an Müntzer etwas dran sein, wenn sich heute eine Gesellschaft um ihn bildet, um diese im sozialen Gedächtnis oft malträtierte Gestalt. So ziehen auch die jährlichen Veröffentlichungen, zu denen uns die Satzung der TMG verpflichtet, inzwischen weitere Kreise. Einige sind bereits vergriffen, andere werden in Wissenschaft und Feuilleton gelegentlich zitiert. Insgesamt hat unsere Reihe auch einige Autoren angezogen, ihre eigenen Arbeiten in ihr zu veröffentlichen: so den Geprägte(n) Reformator. Thomas Müntzer in der Numismatik, kein Heft, sondern ein veritabler Katalog von Monika Lücke und Wilfried Matzdorf zur Ausstellung in der Kornmarktkirche 2012, oder Günter Voglers Thomas Müntzer in einer Bildergeschichte, eine Koproduktion des Vereins für Reformationsgeschichte und der TMG, oder die Festschriften für Siegfried Bräuer und Günter Vogler, schließlich das prallgefüllte Heft des Alttestamentlers Rüdiger Schmitt über Nebukadnezzars Traum von den vier Weltreichen und die Auslegung des Danielbuchs in der „Fürstenpredigt“ Thomas Müntzers – eine Arbeit, die aus einem Forschungsprojekt an der Universität Münster hervorgegangen ist und deren Druck uns aus Geldern dieses Projekts finanziert wurde, wie auch die anderen genannten Publikationen für uns teilweise fremdfinanziert wurden: von Landeskirchen, der Sparkassen- Kulturstiftung Hessen-Thüringen und der Sparkasse Unstrut-Hainich, von den Mühlhäuser Museen und immer wieder einmal von einigen Einzelpersonen. All das ist ein Werbeerfolg der bestehenden Reihe. Dass diese Reihe nicht nur aus den Mitteln der Mitgliedsbeiträge finanziert wurde, sondern aus einem jährlichen Druckkostenzuschuss der Stadt Mühlhausen, möchte ich an dieser Stelle noch einmal mit besonderem Dank an den Herrn Oberbürgermeister und das Stadtarchiv Mühlhausen erwähnen. In unserer Mitte begrüße ich die Bürgermeisterin der Stadt. Dankbar sind wir, dass uns dieser Zuschuss jetzt vertraglich zugesichert wurde und wir ihn nicht mehr Jahr um Jahr neu einwerben müssen. Erwähnen möchte ich noch etwas anderes: Die Arbeit an der Drucklegung – Korrektur und Layout – wurde von Mitarbeitern der Mühlhäuser Museen übernommen, zuletzt vor allem von Rainer Gruneberg, und der Versand von Mitarbeiterinnen in den Sekretariaten der Museen, nicht nur der Versand, sondern auch die Öffentlichkeitsarbeit für die TMG. Frau Weisbrich, die sich um unsere Öffentlichkeitsarbeit rührend kümmert, muss manches Mal wohl gedacht haben, dass der Vorsitzende der Müntzer-Gesellschaft mit seinen häufigen Telefonaten der irrigen Annahme erlegen sei, ein weisungsbefugter Vorgesetzter im Museum zu sein. Eigens erwähnen möchte ich noch Folgendes: Wenn Thomas Müller, der Museumsdirektor, Studierende und Touristen gruppenweise durch Mühlhausen führt, setzt er sie auch auf die Fährte Thomas Müntzers und vergisst nicht, unsere Gesellschaft und ihre Schriften zu erwähnen und für sie zu werben. Für uns ist es ein Glücksfall, dass wir diese Personalunion von Schriftführer und Museumsdirektor nutzen durften.

Ich erwähne dies alles, um zu zeigen, dass die TMG zwar immer noch von der Hand in den Mund lebt, aber dass gerade darin auch der besondere Reiz für mich steckte, auf diese irreguläre, doch kostengünstige Weise den Auftrag der TMG erfüllen zu können: Thomas Müntzer, wo immer es geht, an möglichst vielen Ecken und Enden, ins Gespräch zu bringen und im Gespräch zu halten.

Ich weiß nicht genau, wie das in der Öffentlichkeit ankommt, was sie als Mitglieder der Gesellschaft betrifft, habe ich aber das Gefühl, dass es Ihnen Freude bereitet, in ihr zu sein und mitzuhelfen, die Forschungen zum „ungeliebten Bruder“ Martin Luthers zu unterstützen und die Erinnerung an ihn wach zu halten. Und so kann ich Ihnen mit besonderer Genugtuung und Dank mitteilen, dass unsere Gesellschaft peu à peu gewachsen ist und immer noch wächst, gerade wieder durch mehrere Neuzugänge in den letzten Wochen. Wir sind jetzt bei 85 Mitgliedern und Mitgliederinnen angelangt.

Abschließend möchte ich noch auf eine Aufgabe zu sprechen kommen, die sich der TMG in dieser Zeit besonders stellt. Im nächsten Jahr wird „500 Jahre Reformation“ gefeiert: Landauf und landab laufen seit fast zehn Jahren die Vorbereitungen auf dieses Jubiläum, die die Thesen Martin Luthers gegen den Ablass zur Erlangung des Heils zum Anlass nehmen, ein Erinnerungsfest in großem Stil zu feiern. Geworben wird mit einem Logo, das den Wittenberger Reformator zeigt, und vieles deutet darauf hin, dass die Engführung auf Luther alle verdrängt, die sonst noch an der Reformation beteiligt waren, nicht nur ihre erfolgreichen Agitatoren, sondern auch deren Opfer – Thomas Müntzer, der hingerichtet, Andreas Bodenstein von Karlstadt, der außer Landes gewiesen wurde, die Täufer und Spiritualisten, die verfolgt, vertrieben und oft mit dem Tod bestraft wurden, und der spanische Arzt Michael Servet, der 1553 auf dem Scheiterhaufen in Genf verbrannt wurde. Früh schon haben sich einige aus unserer Gesellschaft eingeschaltet und in Gesprächen und kleineren, streitbaren Publikationen versucht, dieser Tendenz gegenzusteuern. Zuletzt hat das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland den Vorsitzenden der Thomas-Müntzer-Gesellschaft gebeten, in der Reihe Reformation heute ein Heft unter dem Stichwort „Revolution“ zu veröffentlichen. Es wird die Vorfreude vieler ein wenig trüben, es wird andere aufhorchen lassen, hoffe ich, dass unter dem klein gesetzten Logo auf einmal in großem Format das berühmte, leider nicht authentische Kupferstichporträt Thomas Müntzers aus der Ketzergalerie Christoffel van Sichems hervorlugt, als ob auch er etwas zum Thema „Reformation heute“ beizutragen hätte.

Thomas Müntzer war der Gegenspieler Martin Luthers, zunächst aber war er Sympathisant des Wittenbergers, beteiligte sich an Gesprächen und Auseinandersetzungen um eine reformatorische Theologie, als alles noch in Fluss war, und er wird seine Gründe gehabt haben, ziemlich plötzlich für eine „andere Reformation“, aber eben doch Reformation, einzutreten. Er gehört wie Täufer, Spiritualisten und Antitrinitarier zur Problemgeschichte der Reformation. Die Thomas- Müntzer-Gesellschaft wird im nächsten Jahr mit einem Kolloquium, das zunächst provisorisch „Thomas Müntzer, Reformation und die Frage der Gewalt“ genannt werden könnte, dazu beitragen, dass das Jubiläum nicht überall in einem Jubelfest aufgeht, das Martin Luther „in den Himmel hebt“, sondern dass die „Problemgeschichte der Reformation“ umsichtig erörtert wird. Wenn es denn so ist, dass der Wittenberger Reformator der Welt von heute noch etwas zu sagen hat, sollte auch gefragt werden, ob nicht der vor den Toren Mühlhausens Hingerichtete und irgendwo in der Feldmark Verscharrte mit seinem unerschütterlichen Glauben an eine „zukünftige, unüberwindliche Reformation“ ebenso den einen oder anderen Gedanken beisteuern könnte.

Ich danke allen in der Thomas-Müntzer-Gesellschaft, besonders natürlich dem Vorstand, dass wir mit Müntzer gemeinsam soweit gekommen sind. Es waren gute Jahre mit Ihnen allen, Ihrem Engagement, Ihren Anregungen und Ihrer Sympathie für die Erinnerungsarbeit an Thomas Müntzer.

Hans-Jürgen Goertz