Thomas Müntzer – ein Knecht Gottes

Rede zur Neueröffnung einer Ausstellung im Schlossmuseum Allstedt
von Siegfried Bräuer

Allstedt gehört zu den Quellorten der Reformation. Das hat sogar Kurfürst Johann Friedrich bescheinigt. Als er sich veranlasst sah, 1532/33 an den Allstedtern Kritik zu üben, erinnerte er sie daran, dass bei ihnen das Evangelium und Wort Gottes früher als an einem anderen Ort in Werk gerichtet worden sei. Allstedt ist sogar der Geburtsort des vollständigen deutschen Gottesdienstes. Das ist längst nachgewiesen. In der Flut der Veröffentlichungen zu der Reformationsdekade ist mir diese Tatsache allerdings nicht begegnet, nicht einmal beim Jahresthema von 2012 „Reformation und Musik“. Wenn der Luthergegner Johannes Cochläus recht gehabt hätte, als er 1545 behauptete, Luther sei nach dem Wormser Reichstag auf Schloss Allstedt interniert worden, wäre das anders verlaufen. Dann würde nicht die Wartburg allgemeines Interesse während der Reformationsdekade auf sich ziehen, sondern das Schloss Allstedt.

Warum ist Allstedt bei der langen Vorbereitung des Jubiläums bisher vergessen worden? Die geringe Größe des Ortes erklärt nicht alles. Die Hauptschuld trägt sicher der Mann, dem die Stadt und die ganze Region den reformatorischen Aufbruch vor allem verdankt, Thomas Müntzer. Luther, Melanchthon und andere haben dafür gesorgt, dass der Name dieses Abweichlers von der Wittenberger Reformation und sein Wirken in Allstedt Jahrhunderte lang geächtet wurden. Das änderte sich erst, als der theologische Spätaufklärer Wilhelm Zimmermann, Friedrich Engels und in ihrem Gefolge die Arbeiterbewegung, ohne Kenntnis der wirklichen Quellen, Müntzer als Revolutionär verstanden. Nachdem er schließlich von der DDR zum Begründer der revolutionären Tradition des deutschen Volkes überhöht wurde, landete er nach der friedlichen Revolution von 1989 erst einmal mit in der Rumpelkammer der DDR-Hinterlassenschaft.

Die Fachleute unter den marxistischen Historikern hatten in den letzten anderthalb Jahrzehnten der DDR zunehmend wahrgenommen, dass es dem historischen Müntzer in erster Linie nicht um Sozialkritik und um eine politische Revolution ging. Deshalb stand die große „Historisch-biographische Ausstellung“ des Museums für Deutsche Geschichte in Berlin im Dezember 1989 unter der erstaunlichen Überschrift „Ich, Thomas Müntzer, eyn knecht gottes“. Richtig erklärt wurde dieses neue Verständnis nicht. Man begnügte sich mit der Formel von Müntzer „als konsequentestem Ideologen der Reformation“, da ja seit 1982/83 auch Luther unter die Revolutionäre eingereiht worden war. In den turbulenten Ereignissen von Ende 1989 blieb jedoch keine Zeit mehr, die Ausstellung richtig zur Kenntnis zu nehmen. Einige Zeugnisse aus diesen Jahren finden Sie in der heute eröffneten Ausstellung wieder.

Wenn nun die neue Ausstellung in Allstedt das Thema von 1989 noch einmal aufnimmt, dann soll damit nicht nur etwas nachgeholt werden, was damals versäumt wurde. Die Jahreszahl auf der Einladung zeigt es an: Dieses Thema gehört zu Allstedt, denn hier hat Müntzer zum ersten Mal diesen Zusatz „ein Knecht Gottes“ bei einer Briefunterschrift verwendet.

Das Thema der Berliner Ausstellung von Ende 1989 wird heute also bewusst noch einmal aufgenommen. Aber schon die vorangestellten Jahreszahl 1523 zeigt, dass es hier nicht um Müntzer ganz allgemein geht, sondern um sein reformatorisches Wirken in dieser Stadt und von dieser Stadt aus. Hier konnte er am längsten in seinem kurzen Leben tätig sein, nämlich knapp anderthalb Jahre als Parochus, d. h. ordentlicher Inhaber der Pfarrstelle zu St. Johannes in der Neustadt, als Seelwarter, d.h. Seelsorger, wie er sich auf drei Druckschriften bezeichnete, und schließlich als ein Knecht Gottes, wie er seinen ersten Brief an Kurfürst Friedrich den Weisen am 4. Oktober 1523 in Allstedt unterschrieb. Schwingt etwa ein besonderer Anspruch in dieser Selbstbeschreibung mit? Wir wissen nicht, ob das die Allstedter damals vom ersten Tag an so herausgehört haben. Sie haben bestimmt zunächst einmal erwartet, dass die freie Stelle an der Neustadtkirche mit einem guten Prediger des neu entdeckten Evangeliums besetzt wird. Wie das genau zugegangen ist, wissen wir nicht. Allstedt war zwar relativ weit weg von den Residenzen des Kurkreises in Torgau und Wittenberg, aber völlig unberührt war man auch hier nicht von der reformatorischen Bewegung geblieben. An Wigberti amtierte schon der aus Wittenberg gekommene ehemalige Karmelitermönch Simon Haferitz. Er hat sich auch sofort in Allstedt verheiratet. Der erfahrene Verwaltungsbeamte des Kurfürsten, der Schosser Hans Zeiß, hatte die Unterstützung der Bettelmönche und des Mallerbacher Kapellenbetreuers erst reduziert und dann eingestellt. Auch die Messen in der Schlosskapelle fanden nicht mehr statt.

Wie sich der reformatorische Umbruch in Allstedt im einzelnen vollzogen hat, als Müntzer Ende März 1523 in die Stadt kam, lässt sich nicht mehr feststellen. Eins ist sicher, er hat die Bürger und auch den Schosser erstaunlich schnell auf seine Seite gebracht, und zwar als Gottesknecht, als ein Mann, der im Dienste Gottes steht. Nichts anderes heißt ja zunächst dieser Titel. In der Bibel werden Moses und Paulus so genannt. Ein Jahr früher als Müntzer bezeichnet Luther auch Spalatin als Gottesknecht.

Und womit hat Müntzer die Allstedter gewonnen? Natürlich durch seine Predigten, aber auch durch die Neugestaltung des ganzen gottesdienstlichen Lebens in deutscher Sprache. Kleine Anfänge gab es schon ein Jahr früher an verschiedenen Orten. Sie beschränkten sich aber meist auf die Predigt und die Taufe oder die Abendmahlsworte. Luther sah längst, dass es notwendig sei, den ganzen Gottesdienst in deutscher Sprache zu halten. Befreundete Pfarrer bedrängten ihn auch, selbst Hand anzulegen. In der Fülle der Pflichten kam er lange nicht dazu. Außerdem meinte er, die Gemeinden seien noch nicht soweit, neue Riten und Ordnungen zu praktizieren, bevor sie von der neuen Lehre richtig erfasst worden wären. Wichtig sei vor allem die neue Predigt des biblischen Wortes. Müntzer war diese Zurückhaltung gegenüber neuen Formen fremd. Er war vielmehr überzeugt, dass praktizierte Gottesdienste Lernzeiten auf dem Weg zum wahren Glauben sind, wenn die ganze Gemeinde singend und betend aktiv daran beteiligt würde. Für Wochentage gab es das Stundengebet der Klöster und Kleriker als Vorbild, für den Sonn- und Feiertag die Messe. Diese Gottesdienste mussten allerdings nach den Erkenntnissen der Reformation gekürzt und überarbeitet werden.

Genau da setzte Müntzer in Allstedt an, wahrscheinlich noch in der Karwoche vor Ostern 1523. Er wählte große Teile aus den Metten, den Laudes und der Vesper für die fünf Kirchenjahreszeiten Advent Weihnachten, Passion, Ostern und Pfingsten aus. Wo es deutsche Übersetzungen gab, übernahm er sie oder überarbeitete sie nach seinem Verständnis, auch einige Übersetzungen Luthers. Das meiste übersetzte er selbst, vor allem die 35 Psalmen nach der Vulgata, der lateinischen Bibel. Genauso ging er mit der Messe vor, aber auch mit den anderen religiösen Lebensstationen, der Taufe und Trauung, dem Krankenabendmahl und der Beerdigung. Bei der Trauung war er vielleicht sogar der Erste, der eine Art Traupredigt einführte, weil für ihn auch die Ehe eine heilige Sache, ein Übungsfeld für die neue Welt Gottes war. Deshalb hat er auch nach Ostern eine der adligen Nonnen geheiratet, die damals in wachsender Zahl ihr Kloster verließen, weil sie von der wieder entdeckten biblischen Botschaft ergriffen wurden. Von der ehemaligen Nonne, die Müntzer heiratete, kennen wir nur den Namen, Ottilie von Gersen. Wir wissen nicht, wo sie aufwuchs und aus welchem Kloster sie kam, auch nicht, was aus ihr später geworden ist.

Für Müntzer stand fest, dass seine Ehe und Familie nicht bloß eine private Sache waren, sondern eine Art Programmpunkt auf dem Weg zum großen Ziel der neuen Welt Gottes. Wahrscheinlich hat Ottilie die Überzeugung ihres Mannes geteilt. Und sicher nicht nur sie, sondern viele Allstedter mit ihr. Müntzer verstand ja seine ganze Arbeit in Allstedt als Vorbereitung der Gemeinde auf das große Ziel einer Welt, die von der Gottesfurcht bestimmt wird und nicht mehr von der Menschenfurcht. Er sah in der Allstedter Gemeinde eine Art Trainingsstation für dieses Endziel. Darum nannte er die Gemeinde oft Auserwählte, vor allem in seinen biblischen Übersetzungen. Er war sich aber bewusst, dass die Allstedter nicht automatisch zu den Auserwählten gehörten. Ob jemand zurecht als Auserwählter angesprochen wurde, entschied sich daran, ob er wirklich bereit war, sich auf den Weg zum wahren Glauben zu begeben. Dieser Weg war schwer, denn dazu war eine ganz persönliche Glaubensgewissheit notwendig. Diese konnte nach Müntzers Überzeugung aber nur der erlangen, der den gekreuzigten Christus nicht nur verehrt, sondern auch bereit ist, zu leben und zu leiden wie dieser. Er nannte das, dem bitteren Christus nachfolgen.

Immer wieder hat Müntzer in den Texten aus der Allstedter Zeit eingeladen und gemahnt, diesen anspruchsvollen persönlichen Glaubensweg zu gehen und die Zeit bis zu Gottes großer Wende nicht nutzlos verstreichen zu lassen. Durch Widerstände oder Gefahren, auch durch Verfolgungen sollten sich Auserwählte nicht von ihrer Entscheidung abbringen lassen. Diese Warnungen waren nicht aus der Luft gegriffen, denn das Amt Allstedt lag als kurfürstliche Exklave wie eine Insel mitten in einem Gebiet, in dem die Vorschriften der traditionellen römischen Kirche galten. Im Frühjahr 1523 waren die Regierenden durch eine weitere kaiserliche Verordnung aufgefordert worden, die Predigt des Evangeliums nur in den überlieferten kirchlichen Formen zu dulden. Graf Ernst von Mansfeld, dessen Amt Artern direkt an die Allstedter Flur grenzte, verbot als Erster schon im Sommer 1523 seinen Untertanen, die Allstedter Gottesdienste zu besuchen.

Nicht nur die Untertanen des Grafen Ernst von Mansfeld kamen in Scharen zu den Gottesdiensten in Allstedt, in denen sie alles in ihrer Sprache hören und mit vollziehen konnten. Das sprach sich auch in anderen Nachbargebieten herum, in Städten wie Eisleben und Naumburg ebenfalls. Es kamen bald Hunderte von auswärts. Natürlich wird auch der Reiz des Neuen eine Rolle gespielt haben, wenn bei Müntzer der Altar wie bei den frühen Christen nicht dazu genutzt wurde, Heilige oder Reliquien anzubeten. Er war wieder ein Tisch, hinter dem der Geistliche mit dem Gesicht zur Gemeinde stand und das Mahl des Herrn in Gestalt von Brot und Wein austeilte. In der heutigen Ausstellung wird das durch den leeren Altar und die Figuren angedeutet.

Müntzer wollte sich an der apostolischen Zeit orientieren. Spätere kirchliche Ordnungen erkannte er nicht an. Entscheidend war die eigene Glaubensgewissheit, die an der Bibel überprüft werden sollte. Das Bibelbuch selbst war nicht das lebendige Gotteswort. Es war eher eine Richtschnur aus einst ergangenen Gottesworten, eine Art Grundgesetz Gottes. Die Apostelzeit ist ihm noch sehr nahe. Deshalb ist sie bei der Frömmigkeitspraxis zu beachten. Die neuen Formen waren es aber nicht allein, weshalb es soviel Menschen nach Allstedt zog. Da sind die Quellen ziemlich eindeutig. Es waren eher die Fragen nach dem Ziel des Lebens, nach dem richtigen Verhalten im eigenen Leben, der Eindruck, dass die gewohnten Verhältnisse brüchig wurden und sich Veränderungen anzukündigen schienen. Natürlich wird auch Müntzers Predigt von der Hoffnung auf eine neue Christenheit, ja auf eine Wiederkehr der ursprünglichen Ordnung Gottes für die ganze Welt eine wichtige Rolle gespielt haben. Auch das ist noch in den Quellen zu erkennen.

Genau an dieser Schnittstelle entstand der Konflikt, der für Müntzer wie für Allstedt weitreichende Folgen hatte. Müntzer sah sich im endzeitlichen Auftrag tätig. Wer sich ihm in den Weg stellte, fiel Gott selbst in den Arm. Deshalb verwarnte er Graf Ernst von Mansfeld von der Kanzel aus scharf und nannte ihn einen ketzerischen Übeltäter und Tyrannen. Auf die Beschwerde des Grafen, reagierte er noch schärfer. Da es die Allstedter ablehnten, Müntzer zu verhaften, bat der Beleidigte den Kurfürsten, sich einzuschalten. Müntzers schriftliche Rechtfertigung gegenüber dem Landesherrn ist nur aus seiner theologischen Überzeugung zu verstehen. Er legt die endzeitliche Dimension seiner göttlichen Berufung rückhaltlos offen. Sein Auftrag laute, die Gemeinde für die Ankunft des Richters Christus vorzubereiten. Dazu diene seine Gottesdienstreform und seine Verkündigung. Verfolgern der Gemeinde der Auserwählten wie Graf Ernst habe er sich nach der Anweisung der Propheten als eine eiserne Schutzmauer entgegen zu werfen. Es sei offensichtlich, dass Gott den ernestinischen sächsischen Fürsten eine besondere Gnade zugedacht habe. Diese würden sie verspielen, wenn sie ihre Macht nicht für den Schutz der Auserwählten einsetzen. Stellten sie sich aber dem Werk Gottes zur Verfügung, würden sie gnädig zerbrochen, wenn der Herr das Regiment selbst übernimmt. Fürsten würden dann ohnehin überflüssig.

Mit diesem Schreiben vom 4. Oktober 1523 hat der Knecht Gottes Müntzer seine Karten auf den Tisch gelegt. Eine direkte Reaktion des Kurfürsten ist nicht bekannt. Der beleidigte Graf erhielt von ihm nur den Bescheid, dass Müntzer zugesagt habe, sich zu verantworten und von weiteren Attacken abzusehen. Das war nicht der letzte vergebliche Versuch Müntzers, die sächsischen Fürsten zu gewinnen. Am bekanntesten ist der in der sogenannten Fürstenpredigt in der Hofstube am 13. Juli 1524. Herzog Johann und seinem Sohn trat er als „Diener des Wortes Gottes“ gegenüber. So nennt er sich in der gedruckten Überschrift. Als er forderte, die Fürsten brauchten einen neuen Daniel, der deutet, was Gott von ihnen will, meinte er sich zweifellos selbst. Er scheute sich nicht, den Fürsten die Doppelaufgabe zuzuordnen: Schutz der Auserwählten und notfalls Vernichtung der Gottlosen. Die Begründung dieser erschreckenden Konsequenz entnahm er dem 5. Buch Mose [13,6]. Aber die Aufgabe der Fürsten, als Gerichtsengel gegen die Feinde Gottes vorzugehen, las er aus dem Neuen Testament (Matthäus 13, 39-42). Sollten sie sich dieser Aufgabe entziehen, werde ihnen das Schwert genommen. Er schloss seine Predigt mit den Worten: „Seid nur keck! Der will das Regiment selber haben, dem alle Gewalt ist gegeben im Himmel und auf Erden. Matthäus am letzten. Der euch allerliebsten bewahr ewig. Amen.“

Auf die nachfolgenden Ereignisse kann ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen. Die Wichtigsten sind in der Ausstellung knapp dokumentiert worden. Es ist Ihnen überlassen, sie wahrzunehmen und sie miteinander zu verknüpfen: Die Verteidigung der Allstedter Verkündigung durch Druckschriften, die sich immer deutlicher gegen Luther richten. Die Zerstörung der Mallerbacher Marienkapelle. Luthers Aufforderung an seine Landesherren, gegen Gewaltanwendung einzuschreiten. Die Gründung eines Verteidigungsbundes, erst geheim auf dem Stadtgraben, später mit der ganzen Bürgerschaft und Auswärtigen im Ratskeller. Da hatte die Verfolgung der Gottesdienstbesucher schon bedrohliche Ausmaße angenommen, vor allem in Sangerhausen und im Gebiet des Adligen Friedrich von Witzleben. Flüchtlinge suchten in der Stadt Schutz. Im Juni war zu befürchten, dass die geflohenen Untertanen mit Gewalt zurückgeholt werden. Müntzer vertrat fest die Überzeugung, nach Gottes Willen stehe der Schutz der Verfolgten über dem Landrecht.

Die Ereignisse spitzten sich zu. Die Landesherren wurden durch die Naundorfer Äbtissin und Herzog Georg gedrängt, einzugreifen. Sie luden Müntzer, die Spitze des Stadtrats und den Schösser nach Weimar vor. Die Verhandlungen fanden getrennt statt. Den Ratsvertretern, deren Überzeugung schon Risse bekommen hatte, wurde befohlen, den Drucker zu entlassen, den Bund aufzulösen und die Mallerbacher Täter zu bestrafen. Müntzer wurde ermahnt, sich in Predigten zu mäßigen und sich für weitere Weisungen bereit zu halten. Erst nach der Rückkehr erfuhr er auf dem Schloss von Schultheiß, Rat und Schosser die Befehle aus Weimar. Es kam zum Eklat, über den beide Seiten dem Kurfürsten berichteten. Müntzer wiederholte seine Argumente aus dem ersten Brief an den Landesherrn, ergänzte sie aber diesmal durch das offene Bekenntnis: „Ich predige einen Christenglauben, der mit Luther nicht überein stimmt.“ Um der Vielen willen, die seine Predigt angehe, müsse er sie mündlich und schriftlich gegen Luthers Entstellungen vertreten. Sollte ihm das verweigert werden, möge sich der Kurfürst durch die Vernichtung der verstockten Könige im 11. Kapitel des Josuabuches warnen lassen. Dem Schosser habe er ein schriftliches Gutachten übergeben, wie man im Sinne Gottes zukünftigen Aufruhr vermeiden könne. Diesmal unterschrieb er als „ein ernster Knecht Gottes“.

Vier Tage später verließ er heimlich Allstedt, weil ihm klar war, dass seine Arbeit für eine neue Welt unter Christi Regiment an diesem Ort zu Ende war. Die nun folgende offen revolutionäre Phase Müntzers verlief zunächst ohne Kontakt mit Allstedt. Erst auf dem Höhepunkt des Thüringer Aufstandes, den Müntzer als Gottes Aktion verstand, um die Welt neu zu ordnen, setzte er seine Erwartung erneut auf die Allstedter. Er schrieb seinen wortgewaltigen Aufruf zum Kampf für Gottes Sache mit seiner hämmernden Diktion: Dran, dran dran usw. Es ist das meistgedruckte Schriftstück aus seiner Feder geblieben, das sogar als Beispiel in modernen Rhetoriklehrbüchern angeführt wird. Luther hat es sofort als Zeugnis eines Mordpropheten drucken lassen. Dieser letzten Etappe konnte nur am Ende der Ausstellung ein kleiner Raum gewidmet werden.

Es ist nicht einfach, an Müntzer als Knecht Gottes durch eine Ausstellung zu erinnern, zumal es von ihm selbst kein Objekt gibt. Die üblichen Museumsdarbietungen sind kaum möglich. Noch dazu ist die Zeit Müntzers mindestens so fern wie die Luthers. Aber Müntzers Person und Lehren, gegen die sich Luther noch in seiner letzten Predigt gewandt hat, ist uns heute wohl noch fremder. Die Positionen Luthers und Müntzers lassen sich auch nicht ausgleichen, ohne sie zu verfälschen. Muss dann überhaupt in der Reformationsdekade an beide gedacht werden?

Als Kirchenhistoriker muss ich mit ja antworten. Das gebietet zunächst einmal die wissenschaftliche Wahrheit. Luthers Erstgeburtsrecht an der reformatorischen Bewegung ist nicht zu bestreiten. Aber auch Müntzer ist daran beteiligt gewesen, das übliche religionsgeschichtliche Lebens- und Glaubensmodell „gibst du mir, geb ich dir“ abzulösen durch die Kernbotschaft Jesu: Leben und das endgültiges Ziel sind zuerst und zuletzt ein Geschenk. Darin waren sich Luther und Müntzer einig und ließen damit beide das Mittelalter hinter sich. Sie unterschieden sich aber darin, wie mit diesem Geschenk umzugehen ist. Aus eigner Erfahrung wollte Luther vor allem den Menschen von der Belastung durch seine Vergangenheit frei sprechen durch die Verkündigung des Gotteswortes, damit er dankbar die Gegenwart gestalten und sich auf die Zukunft ausrichten kann. Formen und Ordnungen sind zweitrangig. Müntzer hatte die Sorge, dass der zugesagte Freispruch den Menschen zu wenig für die Gestaltung des Neuen in Gang setzt. Er muss die befreiende Nähe Gottes persönlich erfahren und erleiden. Formen und Ordnungen assistieren dabei.

Luthers evangelisches Modell hat im Rahmen von Landeskirchen und evangelischen Landesherren der neuzeitlichen Kultur und Politik viele Impulse vermittelt. Müntzers Modell ist eher im republikanischen reformierten Kirchenwesen und vor allem in Freikirchen weitergeführt worden. Seine Apokalyptik hat ihn zwar in die Katastrophe geführt, zugleich aber auch fähig gemacht, Regierenden auf Augenhöhe gegenüber zu treten und die Zeit für Veränderungen zu nutzen. Widerstandsrecht und Revolutionsgeschichte haben sein Beispiel aufgegriffen, ob berechtigt oder nicht. Als 1975 der Bund der Evangelischen Kirchen zum ersten Mal überhaupt offiziell an Müntzer erinnerte, ist ein ganzer Katalog offener theologischer Fragen zur Reformation aufgelistet worden. Die Kernfrage der Rechtfertigung gehört genauso dazu wie die der politischen Verantwortung und die Zukunftsfrage.

Müntzer hat seine Akzente bei diesen und anderen Fragen von Belang anders gesetzt als die Wittenberger. So hat auch er die Geschichte mit geprägt. Das ist bis heute zu wenig beachtet, geschweige denn ernsthaft aufgearbeitet worden. Die bisherige Planung der Reformationsdekade mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf Luther ist Beweis genug. Müntzers Leben ist in einem Alter abgebrochen, als Luther gerade die Thesen veröffentlicht hatte. Das Allstedter Experiment einer neuen Gemeinde endete nach anderthalb Jahren. Torso und Fragment weisen aber über sich hinaus, nicht nur in Kunst und Literatur. Als Reformationshistoriker begrüße ich es, dass sich die Stadt Allstedt und das Land Sachsen -Anhalt für eine neue Dauerausstellung zum Knecht Gottes Thomas Müntzer entschieden haben. Sie ist sogar noch ausbaufähig. Der Mann, von dem auf der Einladung nur die Konturen zu sehen sind, war alles andere als gesichtslos. Er gehört mit seinem Wirken und seinen Irrtümern zur Reformation. Die Spannung zwischen ihm und Luther in den Grundfragen bleibt. Sie hat die Neuzeit mit geprägt. Jetzt gilt es, sie in der neuen Ausstellung zu entdecken und fruchtbar zu machen.

Siegfried Bräuer